Zwei hessische Antifaschist*innen klagen vor dem Bundesverfassungsgericht in Sachen Überwachung durch das hessische Landesamt für Verfassungsschutz (LfV)

20. Oktober 2023

Ein Gastbeitrag von Datenschutzrheinmain von der Bürgerrechtsgruppe dieDatenschützer Rhein Main

Unterstützt durch die Gesellschaft für Freiheitsrechte e. V. (GFF) haben – neben fünf weiteren Personen (darunter die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Basay-Yildiz) – die hessischen Antifaschistinnen Silvia Gingold und Norbert Birkwald 2019 vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) Verfassungsbeschwerde gegen das im Jahr 2018 novellierte Hessische Verfassungsschutzgesetz (HVSG) eingereicht. 2022 setzte das BVerfG mit seiner Entscheidung zum Bayerischen Verfassungsschutzgesetz (Aktenzeichen: 1 BvR 1619/17) Maßstäbe für alle anderen Verfassungsschutzgesetze – so auch für das Hessische Verfassungsschutzgesetz (HVSG).

Trotz der daraufhin erfolgten Novellierung des HVSG durch die schwarz-grüne Mehrheit im Hessischen Landtag hat der von der GFF beauftragte Jurist Prof. Dr. Tobias Singelnstein festgestellt, dass das HVSG in weiten Teilen nicht den Vorgaben des o. g. Urteils des BverfG entspricht und weiterhin verfassungswidrig ist. Nach eingehender Prüfung hält die GFF deshalb an ihrer Verfassungsbeschwerde fest, die bereits gegen das hessische Polizeigesetz (HSOG) Erfolg hatte. 
In einer Stellungnahme vom 25.09.2023 gegenüber dem BVerfG erklärt Prof. Dr. Tobias Singelnstein eingangs: „In dem Verfassungsbeschwerdeverfahren der Frau Silvia Gingold u.a. […] machen die Änderungen eines Teils der angegriffenen Regelungen durch Art. 1 des Gesetzes zur Änderung sicherheitsrechtlicher Vorschriften und zur Umorganisation der hessischen Bereitschaftspolizei vom 29. Juni 2023 […] eine Anpassung des Verfahrensgegenstandes erforderlich. Hinsichtlich folgender Regelungen des Hessischen Verfassungsschutzgesetzes halte ich ungeachtet partieller Änderungen durch das Gesetz vom 29. Juni 2023 an der Verfassungsbeschwerde fest…“ 
In seinem Schriftsatz verweist Prof. Dr. Tobias Singelnstein dann vor allem auf folgende Sachverhalte: 

a) Die hessische Landesregierung hat die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts aus dem Urteil zum Bayerischen Verfassungsschutzgesetz (BayVSG) zwar zur Kenntnis genommen, aber nicht vollständig umgesetzt. 

b) Besonders eingriffsintensive Maßnahmen wie die länger andauernde Ortung von Mobilfunkgeräten oder der Einsatz von verdeckten Ermittler*innen über einen längeren Zeitraum sind nach dem HVSG bei „erheblich beobachtungsbedürftigen Bestrebungen“ zulässig. Um unter diese „Bestrebungen“ zu fallen, reichen bereits geringfügige Straftaten wie Sachbeschädigung aus.

c) Bei anderen Maßnahmen ist noch nicht einmal das erforderlich. Hier soll es ausreichen, wenn eine „beobachtungsbedürftige Bestrebung“ vorliegt. Der Verfassungsschutz kann beispielsweise verdeckte Ermittler*innen bis zu sechs Monate einsetzen sowie Auskünfte von Verkehrsunternehmen einholen. Da Verkehrsunternehmen (ÖPNV, Car- und Bikesharing, Taxi-Appsr etc.) heutzutage viele Informationen digital speichern, ermöglichen es die Auskünfte, Bewegungsprofile zu erstellen. Dafür muss keine gesteigerte Beobachtungsbedürftigkeit vorliegen, obwohl massiv in Grundrechte der betroffenen Bürgerinnen eingegriffen wird.

d) Im Urteil zum Bayerischen Verfassungsschutzgesetz stärkte das BVerfG das – aus der bitteren Erfahrung des Faschismus herrührende – Trennungsprinzip zwischen Verfassungsschutz einerseits, Polizei und anderen Sicherheitsbehörden andererseits. Es setzt klare Schranken für den Informationsaustausch von geheimdienstlich erhobenen Daten.

e) Was die Übermittlung von Daten an andere Behörden betrifft, erfüllt das 2023 novellierte HVSG die Entscheidungsmaßstäbe des Urteils des BverfG nicht. Noch immer ist es unter sehr niedrigen Voraussetzungen möglich, Daten des Geheimdienstes beispielsweise an Ausländerbehörden zu übermitteln, die diese für die Abschiebung der Betroffenen nutzen können.

Die GFF stellt stellt dazu fest:

Für einen ungewissen Gewinn an Sicherheit nimmt die hessische Landesregierung und die sie tragenden Fraktionen von CDU und Grünen schwerwiegende Eingriffe in Grund- und Freiheitsrechte der in Hessen lebenden Menschen in Kauf. Dazu zählen auch Silvia Gingold und Norbert Birkwald, beides engagierte Mitglieder der VVN in Hessen. 

Bereits in der ersten Verfassungsbeschwerde aus dem Jahr 2019 wurde dazu – bezogen auf die beiden Antifaschistinnen – u. a. festgestellt: 

„Die Beschwerdeführerin zu 1 (Silvia Gingold) lebt in Kassel und ist Lehrerin in Ruhestand. Sie stammt aus einer jüdischen Familie, ihr Vater Peter Gingold war nach seiner Flucht aus Deutschland im französischen Widerstand gegen den Nationalismus aktiv… Die Beschwerdeführerin… ist bis heute in der VVN-BdA aktiv Die VVN-BdA versteht sich als überparteiliche Sammelorganisation von Menschen, die gegen neofaschistische, rassistische und nationalistische Bestrebungen eintreten. Obwohl die VVN-BdA im Jahresbericht des Landesamts nicht namentlich genannt wird, steht die VVN-BdA nach Angaben des Landesamts gleichwohl in Hessen ebenso wie in zahlreichen anderen Bundesländern unter Beobachtung… Die Beschwerdeführerin… ist dem Landesamt nachweislich auch persönlich bekannt und wird bis heute vom Landesamt beobachtet… Seit 2009 wird beim Landesamt eine Personenakte zur Beschwerdeführerin… geführt. Dies brachte sie durch eine Anfrage vom 16.10.2012 an das Landesamt in Erfahrung. Mit Antwort vom 18.11.2012 teilte man ihr mit, dass sie seit 2009 im Bereich Linksextremismus gespeichert sei… Die Beschwerdeführerin erhob 27.05.2013 Klage gegen das Landesamt und verlangte vollumfängliche Auskunft über die über sie erhobenen Daten sowie Löschung dieser Daten… Auch im Rahmen des Gerichtsverfahrens hat das Landesamt die personenbezogenen Daten der Beschwerdeführerin nicht offengelegt, über 100 Seiten der Akte waren überwiegend geschwärzt. Das Landesamt hat im Rahmen des Verwaltungsgerichtsverfahrens am 07.10.2013 eine Sperrerklärung für nicht vorgelegte Bestandteile der Akte abgegeben… Diese Sperrerklärung weist darauf hin, dass im direkten Umfeld der Beschwerdeführerin auch verdeckte Ermittlerinnen und Vertrauenspersonen eingesetzt werden…“

„Der Beschwerdeführer zu 2 (Norbert Birkwald) lebt in Mörfelden-Walldorf und ist Sprecher der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) in Hessen. Als Lehramtsanwärter erhielt der Beschwerdeführer… 1974 ein Berufsverbot und hat in Folge dessen auch in späteren Jahren keine Stelle als Lehrer gefunden… Im Komitee ‚40 Jahre Berufsverbote‘ setzt er sich gegen die Nachwirkungen der Berufsverbote ein und hat sich in diesem Zusammenhang beim hessischen Landesamt für Verfassungsschutz erkundigt, welche Daten über ihn vorliegen. Am 7. Juni 2018 erhielt der Beschwerdeführer… auf Nachfrage beim Landesamt für Verfassungsschutz die Auskunft, dass über ihn Daten im Phänomenbereich Linksextremismus gespeichert sind. Diese Daten umfassten seine Stellung als Mitglied im Sprecher*innenrat der VVN-BdA und seine Funktion als Webmaster der Internetseiten der VVN-BdA Hessen und der Internetseite der DKP-Linke Liste Mörfelden-Walldorf… In der Akte des Landesamts für Verfassungsschutz der Beschwerdeführerin zu 1 (Silvia Gingold) taucht der Beschwerdeführer zu 2 ebenfalls auf, als Teilnehmer an einer Demonstration gegen die NSU und zu 40 Jahren Berufsverbote im Jahr 2012…“ 
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