Nach der hessischen Landtagswahl 2023: Demokratische Alternativen sichtbar machen

20. Oktober 2023

Die Wahlprognosen haben nahe an den Wahlergebnissen gelegen. Allerdings kam’s schlimmer! Das Wahlergebnis ist in mehrfacher Hinsicht politisch verheerend. Die Wahlbeteiligung ist gegenüber 2018 noch einmal gesunken (ca. 3%). Das bedeutet, dass die traditionellen Wähler*innen (viele von ihnen Anhänger*innen der Ampel-Koalitionsparteien) nicht zur Wahl gegangen sind. Ein Ausdruck für die Ratlosigkeit der Wähler*innen? Auf der anderen Seite konnte insbesondere die AfD viele Nichtwähler mobilisieren.
Es gab keine „Wechselstimmung“, so dass die schwarz-grüne Koalition nicht grundsätzlich in Frage gestellt wurde. Eine zukünftige Landesregierung wird aus einer Koalition von mindestens zwei Parteien bestehen.

1) Die CDU bleibt stärkste Fraktion im Hessischen Landtag, mit knapp 35% übertrifft das Ergebnis die eigenen Erwartungen. Das Versprechen von Boris Rhein, es werde keinerlei Zusammenarbeit mit der AfD geben, ist wohlfeil: SPD, GRÜNE und FDP stehen bereit, damit Rhein nicht in eine solche Verlegenheit kommt. 

2) Die GRÜNEN haben ihren Zenit überschritten (14,8%). Ihre Erwartungen wurden massiv enttäuscht. Den Verlust (-5%) als das „zweitbeste Wahlergebnis“ schönzureden, ist mutig. Er mag die Quittung für ihre bisherige Regierungsbeteiligung – im Bund und auf Landesebene – zum Ausdruck bringen. Das handwerklich schlecht gemachte Heizungsgesetz und die Baerbocksche Außenpolitik wurde auch in Hessen in Wahlnachfragen als Grund für die Ablehnung genannt, so dass die GRÜNEN Stimmen an die CDU verloren (Anhänger von schwarz-grün), an Nichtwähler, aber selbst an die AfD (ca. 9.000 Stimmen).

3) Die FDP zieht mit 5% knapp wieder in den Landtag ein. Trotzdem spekuliert sie auf eine Regierungsbeteiligung. Wenn sie die Politik kopiert, die die Bundespartei in der Ampel betreibt, können wir uns auf weiteren Abbau von Sozialstandards einstellen. Verfehlt sie die 5%-Hürde, wird dies kaum einen Schaden für die parlamentarische Demokratie bedeuten. 

4) Da in der Ampel-Koalition die SPD die „Leitlinie“ vorgibt, konnte sie nicht von dieser schlechten Stimmungslage für die GRÜNEN profitieren. Die SPD hat mit 15,1 % ihr historisch schlechtestes Landtagswahlergebnis eingefahren. Das war kaum anders zu erwarten, hat sie doch den Wahlkampf mit Themen bestritten, die entweder fern der Wähler waren (Frauenquote) oder von der AfD besetzt sind (Demontage des Asylrechts). Gerade das Agieren der Innenministerin und hessischen Spitzenkandidatin Nancy Faeser in der Flüchtlingsfrage trieb potenzielle SPD-Anhänger teilweise in die Arme der AfD oder zur Wahlenthaltung.
Dass die SPD nur noch drittstärkste Partei im Landtag ist und faktisch alle Direktmandate verloren hat, ist ein Desaster. Es zeigt, dass diese einstige Traditionspartei der Arbeiterbewegung über keine stabile regionale Verankerung mehr verfügt. Selbst in der VW-Stadt Baunatal wurde die SPD nur noch zweitstärkste Kraft, direkt gefolgt von der AfD.

5) Die LINKE war in diesem ideologischen Großtrend nicht in der Lage, ihre sachbezogenen Alternativen und die Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit zum Wahlkampfthema zu machen. In verschiedenen Hochburgen konnte sie weiterhin zweistellige Ergebnisse erzielen, in der Fläche jedoch ist sie zu schwach aufgestellt.
Die LINKE ist nicht mehr im Landtag vertreten (3,1%). Damit fehlt eine kritische Stimme, die immer wieder den Finger in die Wunde gelegt hat und so manche Themen an die Öffentlichkeit getragen hat: die amtliche Vertuschung um den Mord an Walter Lübcke, die mangelnde Aufklärung um die rassistischen Morde von Hanau oder der Skandal der antisemitischen Chatgruppen bei der Frankfurter Polizei, um nur einige verdienstvolle Initiativen der Partei DIE LINKE zu benennen. 

6) Der Triumph der AfD ist unüberhörbar und unerträglich. Mit 18,4% wird sie zweitstärkste Fraktion im Hessischen Landtag. Obwohl sie faktisch im öffentlichen Raum nicht präsent war, und dort, wo sie in städtischem Umfeld auftrat, ihr entweder politischer Protest oder Ignoranz entgegentrat, wurde sie in zahlreichen Wahlbezirken von einem Viertel der Wähler gewählt. Hohe Resultate verzeichnete sie in Brennpunktbezirken, in denen soziale Konflikte – verbunden mit der Debatte um die Unterbringung von Geflüchteten – sichtbar sind, aber auch in sozial etablierten Gebieten. Es sind erkennbar nicht die sozial Deklassierten, die vorrangig AfD wählen. Gleichzeitig sind deren Wähler*innen nicht greifbar, da es keine öffentliche Reaktion zugunsten der AfD (Teilnahme an Veranstaltungen etc.) gibt. Selbst die Auseinandersetzung mit dem Wahlprogramm der AfD und den politischen Thesen ihrer Repräsentanten führt nur eingeschränkt zur Ablehnung dieser Partei. Das erschwert antifaschistische Interventionen der traditionellen Art.

Fazit und Konsequenzen:

Der erschreckende, jedoch voraussehbare Gewinn an Wählerstimmen der mindestens zum Teil faschistischen AfD konnte von antifaschistisch-demokratischen Kräften nicht verhindert werden. Auch wenn wir, die VVN-BdA, Vieles versucht haben, um Wähler*innen davon abzuhalten, AfD zu wählen, müssen wir uns eingestehen, unsere Kräfte waren zu schwach, um in diesen Wahlkampf vernehmlich eingreifen zu können. Diese Einschätzung dürfte wohl auch auf viele antifaschistische Initiativen und Bündnisse landauf und landab in Hessen zutreffen. Wir müssen uns auf eine Verschlechterung der politischen Rahmenbedingungen für antifaschistisches Handeln einstellen. Wir haben nur noch einzelne Ansprechpartner*innen auf landespolitischer Ebene für unsere Themen. Hinzukommt, dass der materielle Spielraum durch parlamentarische Aktivitäten (Wahlkreisbüros bis zu Stiftungsgeldern) deutlich eingeschränkt sein wird. Die Gefahr besteht, dass Medien (Lokalzeitungen, Hessischer Rundfunk) diesem Rechtstrend in Hessen folgen und damit unsere Themen immer mehr als „Nischenthemen“ behandeln, sofern sie überhaupt bereit sind, sich konsequent antifaschistischen Aussagen zu widmen.

Jedoch darf diese nüchterne Betrachtung nicht zur Resignation führen. Die antifaschistisch-demokratischen Kräfte werden gebraucht, erst recht nach diesem Wahlergebnis! Wir haben in diesem Wahlkampf bewiesen, wir sind sehr wohl in der Lage, antirassistische, humanistische Werte zu formulieren und zu verbreiten. Zuweilen mit einigem Erfolg: So sind fast durchgängig Protestkundgebungen gegen öffentliche Auftritte der AfD zahlenmäßig stärker gewesen als deren Anhängerschaft, nicht zuletzt am 7. Oktober in Wiesbaden. Inwieweit es gelungen ist, damit mögliche AfD-Wähler abgehalten zu haben, Nazis zu wählen, sei dahingestellt.
Wir müssen noch intensiver auf eine zivilgesellschaftliche Vernetzung und außerparlamentarisches Handeln hinarbeiten. Angesichts der Wahlergebnisse dürften dafür die Bedingungen besser sein, weil sich auch für manche Bündnispartner die Handlungsoptionen deutlich verschlechtert haben.
Sozialpolitische und friedenspolitische Themen werden im neuen Parlament voraussichtlich weniger Raum haben und damit auch in der Öffentlichkeit weniger präsent. Die Herausforderung, mit der wir es ab heute mehr denn je zu tun haben werden, wird sein, demokratisch-antifaschistische Alternativen zu formulieren und ihnen öffentlich Gehör zu verschaffen. Die VVN-BdA ist bereit, ihren Beitrag zu leisten.