75 Jahre VVN Hessen
27. September 2021
Die Feier zum 75. Geburtstag der VVN am 18. Juli in Frankfurt-Höchst war unserer kurz zuvor verstorbenen Ehrenvorsitzenden Esther Bejarano gewidmet.
Ihr Bild auf der Bühne begleitete uns an diesem Nachmittag.
Ulrich Schneider eröffnete die Feier mit dem Gedenken an diese großartige Frau, an ihren Mut und ihre beispielhafte Tatkraft gegen Faschismus und für die Verwirklichung der Menschenrechte bis zuletzt.
Rund 200 Gäste aus ganz Hessen waren auf das Freigelände an der Jahrhunderthalle gekommen.
Wir veröffentlichen hier die Rede von Ulrich Schneider:
In diesem Jahr feiern verschiedene antifaschistische Gruppe den 100. Geburtstag der „Antifa“ – sie nehmen dabei Bezug auf die ersten organisierten Gruppen in Italien, die Arditi del Popolo, die sich gegen den Vormarsch der faschistischen Schwarzhemden, der Mussolini-Schlägertruppe wehrten.
Auch in Deutschland entstanden Anfang der 1920er Jahre die ersten antifaschistischen Initiativen aus den Reihen der Arbeiterbewegung, der Antifaschisten-Tag der KPD, die „Antifaschistische Aktion“ und Anfang der 1930er Jahre die sozialdemokratische „Eiserne Front“.
Wenn wir heute den 75. Jahrestag der Gründung der hessischen VVN begehen, dann können wir zurecht daran erinnern, dass viele der Frauen und Männer aus Hessen, die sich in diesen Monaten in den VVN zusammenfanden, Teil dieser antifaschistischen Bewegung waren, die sich dem aufkommenden Faschismus und später dem Faschismus an der Macht entgegenstellten. Und so ist es überhaupt nicht anmaßend, wenn wir als VVN in Anspruch nehmen, tatsächlich diese hundertjährige Geschichte der antifaschistischen Bewegung zu repräsentieren.
Aber – und das macht den erweiterten Charakter der VVN nach 1945 aus – sie repräsentierte von Anfang an auch diejenigen, die aufgrund der faschistischen Zuschreibung z.B. in der Rassepolitik und der sozialen Ausgrenzungen als „Opfer des Faschismus“ erheblichen Unterstützungsbedarf hatten.
Frauen und Männer aus Widerstand und Verfolgung hatten – beauftragt von den alliierten Besatzungsoffiziere – unmittelbar nach der Befreiung 1945 als Bürgermeister, Polizeichefs, Schul- und Sozialdezernenten oder – wie der ehemalige Dachau-Häftling Oskar Müller – als Arbeitsminister in der ersten hessischen Landesregierung ihren Beitrag zum antifaschistisch-demokratischen Neubeginn geleistet. Sie schufen überparteiliche antifaschistische Komitees, wirkten in den antifaschistisch-demokratischen Parteien.
Sie bauten die Betreuungsstellen für politisch, rassisch und religiös Verfolgte auf, an deren Spitze vertrauenswürdige Kameradinnen und Kameraden standen. Ich möchte hier nur einige wenige nennen: Otto Roth und Lore Wolf in Frankfurt, Karl Schild in Offenbach, Ria Deeg in Gießen und Max Mayr in Kassel.
Mit dieser Arbeit verbanden die Antifaschisten mehr als nur die Sicherung von Entschädigung und Sozialfürsorge. Sie nutzten dies zur politischen Vernetzung im Sinne der Verwirklichung des politischen Vermächtnisses der Überlebenden. Und bald schon zeigte sich die Notwendigkeit einer eigenständigen Organisation der Widerstandskämpfer und Verfolgten:
Zum einen wurden die Betreuungsstellen in Behörden umgewandelt, sie hatten damit zwar eine staatliche Funktion, jedoch keine politische Selbstständigkeit mehr. Zweitens veränderte sich das gesamte politische Klima, die Ost-West-Konfrontation wurde immer sichtbarer und das politische Gewicht der Stimme der Antifaschisten schien abzunehmen.
Auf diese Entwicklung reagierten die Überlebenden der faschistischen Verfolgung, indem sie eigene Vereinigungen schufen, wobei selbst ihre Organisation durch die Alliierten lizenziert werden musste. Ohne jedoch auf formale Genehmigungen der Besatzungsmacht zu warten, organisierten sie – trotz großer Schwierigkeiten – informelle Treffen zwischen den Zonenbeauftragten der Verfolgten. So kamen im August 1946 in Hanau – und damit verbindet sich unsere heutige Feier zum 75. Gründungsjubiläum – Vertreter aus Hamburg, Berlin, Nordrhein-Westfalen, Stuttgart und Frankfurt zusammen, um die Strukturen für eine gemeinsame Organisation aller Nazigegner zu beraten. Als Name wurde – wie Emil Carlebach später berichtete – mit Rücksicht auf die Westalliierten „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ gewählt.
Nun gründeten die Überlebenden in zahlreichen hessischen Städten VVN-Orts- und Kreisvereinigungen, u.a. in Kassel, Gießen, Hanau, Offenbach, Darmstadt und Frankfurt/M. Anfang 1947 war dieser Prozess so weit abgeschlossen, dass mit Zustimmung der Alliierten für den 24. Februar 1947 eine Landesversammlung in Gießen einberufen werden konnte, wo ein Landesvorstand gewählt wurde. Dieser Vorstand repräsentiert damals die gesamte Bandbreite des politischen Spektrums der antifaschistisch-demokratischen Organisationen und alle wichtigen Opfergruppen faschistischer Verfolgung. An der Spitze stand Dr. Hans Mayer, Marxist, Jude, Emigrant, Staatsrechtler und Literaturwissenschaftler, der – zurückgekehrt aus dem Schweizer Exil – 1945/46 als politischer Redakteur bei Radio Frankfurt, dem Sender der Amerikaner gearbeitet hatte. Wegen kritischen Anmerkungen über Entnazifizierung und andere Bereiche der Besatzungspolitik war er von dieser Aufgabe entbunden worden. Nun setzte er sich mit großem Engagement und klaren Worten für die sozialen und politischen Interessen der ehemaligen Verfolgten ein.
Ich kann und will an dieser Stelle jetzt keinen Gang durch die Geschichte der BRD machen, obwohl es durchaus reizvoll wäre, das Wirken der VVN gegen politische Restauration, Renazifizierung und Remilitarisierung nachzuzeichnen. Dass sich die Organisation dabei mit den Regierenden anlegte – egal ob es die sozialdemokratische hessische Landesregierung war oder die Adenauer-Administration, in der ein Nazijurist wie Hans Globke Kanzleramtsminister sein konnte – dürfte verständlich sein.
Ebenso wie die Tatsache, dass auch der Kalte Krieg und die damit verbundenen innenpolitischen Konflikte keinen Bogen um unsere Organisation machten. So erlebten wir auch in Hessen die Folgen des Unvereinbarkeitsbeschlusses der SPD, sowie später den Austritt von Prof. Eugen Kogon und einige seiner Freunde, die den „Verband für Freiheit und Menschenrecht“ gründeten. Zwar erreichte dieser Verband zu keinem Zeitpunkt tatsächliche politische Bedeutung oder eine größere Mitgliederzahl, aber er wurde durch Gelder des Bundesinnenministeriums finanziell am Leben erhalten. Für die Medien war damit die Stigmatisierung der VVN als kommunistische Organisation gegeben.
Die VVN erlebte in diesen Jahren nicht nur eine politische Stigmatisierung, ihr praktisches Handeln wurde durch polizeiliche Eingriffe immer wieder behindert.
1951 wurde der Gesamtdeutsche Rat der VVN, der in Frankfurt seinen Sitz hatte, durch die Adenauer-Regierung verboten, das Büro durch hessische Polizei geschlossen. Die Stadt Frankfurt verbot damals eine Gedenkkundgebung der VVN und die Stadt Kassel untersagte der VVN sogar die Teilnahme an der Einweihung des Mahnmals für die Opfer des Faschismus. Zwar wurde dies später per Gericht als rechtswidrig erklärt, aber es zeigt das politische Klima dieser Jahre.
Ein Lichtblick: Trotz Forderungen der CDU weigerte sich die SPD-Landesregierung, ein Verbot der hessischen VVN in Erwägung zu ziehen.
APO und Studentenbewegung veränderten die Perspektiven auf alte Nazis in Amt und Würden („Unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren“) und damit auch auf die Arbeit der VVN, so dass die Antifaschisten auch unter jungen Leuten politisches Gehör fanden. Die VVN reagierte durch die Öffnung der Organisation für nachgeborene Generationen und hieß seitdem VVN-Bund der Antifaschisten – ein Schritt, der richtig, aber in manchen Kreisvereinigungen durchaus mühselig war.
Doch die politischen Herausforderungen waren offenkundig. Hier nur als Stichworte: Die Zunahme von alt- und neofaschistischen Provokationen, Hakenkreuz-Schmierereien und NPD–Wahlerfolge (in Fraktionsstärke im hessischen Landtag).
Gleichzeitig ging es um die Bewahrung der Erinnerung an Widerstand und Verfolgung. Dazu gründeten in diesen Jahren Vertreter der VVN gemeinsam mit Pädagogen und Wissenschaftlern hier in Frankfurt den Studienkreis deutscher Widerstand 1933-1945 e.V.
Ein sichtbares Zeichen der gewachsenen politischen Bedeutung von Antifaschismus und der antifaschistischen Organisation war der 10. Mai 1975, als auf dem Frankfurter Römerberg 40.000 Menschen– zum größten Teil aus den jüngeren Generationen – zum ersten Mal den Tag der Befreiung feierten.
In den folgenden Jahren war die hessische VVN-BdA aktiver Teil verschiedener Großaktionen und Kundgebungen – insbesondere gegen alte und neue Nazis, als es in Frankfurt gegen das Deutschland-Treffen der NPD ging oder in Oberaula und Bad Arolsen gegen die SS-Traditionstreffen. Die VVN war sichtbar und eine anerkannte Kraft in der demokratischen Bewegung unseres Landes.
Bei diesem kursorischen Rückblick auf die Verbandsgeschichte kann ich dennoch natürlich nicht auslassen, dass die hessische VVN-BdA in der Umbruchsperiode von 1989/90 ebenfalls in arge Probleme kam, da hauptamtliche Strukturen nicht mehr finanzierbar waren, Mitglieder die Organisation verließen und auch in Hessen CDU-Vertreter meinten, jetzt die VVN-BdA als DDR-Organisation angreifen zu müssen.
In dieser Periode haben sich in Hessen besonders unsere älteren Mitglieder mit großem persönlichem Einsatz für den Erhalt der Organisation eingesetzt. Ich möchte an dieser Stelle nur drei namentlich erwähnen, die sich im besonderen Maße für die hessische VVN-BdA eingesetzt haben:
Peter Gingold, der für diese Arbeit unermüdlich selbst viele unerquickliche Debatten und Sitzungen über sich ergehen ließ,
Lorenz Knorr, der als Hesse sich Anfang der 1990er Jahre besonders auf Bundesebene engagierte,
und Peter Altmann, der als quasi ehrenamtlicher Landessekretär die Weiterarbeit der Landesorganisation ermöglichte.
Mit ihrer Hilfe und dem Engagement vieler Nachgeborener gelang es in den letzten drei Jahrzehnten die Organisation zu stabilisieren, zu profilieren und zu einem bis heute beachteten politischen Faktor zu machen.
An diesem 75. Jahrestag stehen wir vor neuen Herausforderungen für die Zukunft unserer Organisation, nämlich die Fortsetzung der Arbeit, wo unsere Zeitzeugen verschwunden sind. Welche moralische und politische Anerkennung sie besaßen, hatte in den vergangenen Jahren Esther Bejarano unter Beweis gestellt, die sich mit ihrem emotionalen Appell: „Es brennt, und die Politik sperrt die Feuerwehr aus“ mit großer öffentlicher Resonanz in die Auseinandersetzung um die Aberkennung der Gemeinnützigkeit für die VVN-BdA eingemischt hat.
Die Lücken, die der Verlust dieser Zeitzeugen reißt, sind nicht ernsthaft zu schließen. Wir – als Angehörige der nachgeborenen Generationen – müssen auf anderen Ebenen versuchen, das gemeinsame antifaschistische Anliegen fortzusetzen.
Drei Aspekte sind aus meiner Sicht dabei zentral:
1) Die Autorität der Zeitzeugen-Generation, die als Person im politischen Alltag Kristallisationspunkt und „Schnittmenge“ unterschiedlicher Strömungen waren, können wir nur durch eine intensive und vertrauenswürdige Bündnisarbeit kompensieren. Die VVN-BdA muss sich als zuverlässiger und handlungsfähiger Partner in politischen Bündnissen beweisen, wobei wir besonders auf die Integration unterschiedlicher Handlungsformen und inhaltlicher Zugänge zum Antifaschismus achten sollten.
2) In unserer Geschichtsarbeit geht es um zwei Perspektiven:
Wir müssen tatsächlich gegen alle Formen des historischen Vergessens ankämpfen. Dabei können wir als „Zeugen der Zeitzeugen“ auftreten, denn viele von uns sind durch die Begegnung mit Frauen und Männern aus Widerstand und Verfolgung selber Mitglied in den Reihen der VVN-BdA geworden.
Schwerpunkt in unserer Geschichtsarbeit kann nicht allein die allgemeine Aufklärung über die NS-Zeit sein, sondern insbesondere der Blick auf die Frauen und Männer, die diesem verbrecherischen Regime unter dem Risiko für Gesundheit, Freiheit und Leben widerstanden haben. An sie zu erinnern ist unsere Aufgabe.
3) Natürlich handeln wir gegen Neofaschismus und alle Formen von Rassismus, gegen Aufrüstung und Kriege als Fluchtursache, gegen den Abbau demokratischer Rechte und gegen Diskriminierungen in den verschiedenen Formen.
Wir haben dabei aber auch eine positive Vision einer neuen, sozial gerechten, menschenwürdigen, demokratischen, friedlichen Gesellschaft. Nicht im Sinne einer parteipolitischen Orientierung oder eines bestimmten Gesellschaftsmodells, sondern im Sinne des Schwurs von Buchenwald, also eine Gesellschaft, in der der Nazismus mit seinen gesellschaftlichen und sozialen Wurzeln beseitigt ist und eine neue Welt des Friedens und der Freiheit geschaffen wird.
Diese Vision haben wir entwickelt im gemeinsamen Handeln mit unseren politischen Müttern und Vätern, wie Ettie und Peter Gingold, Emil Carlebach, Lore Wolf, Otto Roth und nicht zuletzt Esther Bejarano.
In ihrem Sinne setzen wir unseren gemeinsamen antifaschistischen Kampf fort.