Provinzposse?
29. August 2024
Da gibt es im Werra-Meißner-Kreis eine Ortschaft namens Netra. Diese 800-Seelen-Gemeinde feiert nächstes Jahr ihr Tausendjähriges Bestehen. Wahrlich ein Grund zu feiern. Eine Chronik wird auch erstellt. Soweit, so gut. In dieser Chronik wird allerdings ein Beitrag nicht abgedruckt: Der Aufsatz von Dr. Martin Arnold über die Juden im Dorf zur Zeit des Nationalsozialismus. [1] Vor wenigen Tagen teilte der Festausschuss Arnold mit, dass man auf seinen Aufsatz in der Festschrift verzichte. „Wir wollen aus der Festschrift keine Streitschrift kreieren“, so die Begründung der Absage. „Das Hauptproblem ist die Nennung der Klarnamen der damaligen Täter“, so Netras Ortsvorsteher Philipp Pfister. „Es gib noch viele Nachfahren im Ort“, sagt er und man wolle deshalb „keinen Unfrieden ins Dorf bringen“. [2]
Das könnte man als „Provinzposse“ abtun. Tatsächlich spiegelt es die Stimmung der „Mitte der Gesellschaft“ wider. Festausschuss und Ortsvorsteher lassen sich nicht beirren. Schon gar nicht durch einen Offenen Brief, den Christoph Heubner, Exekutiv Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitee nach Netra geschickt hat [3]. Heubner schreibt in dem Offenen Brief: „Sie haben in diesem Zusammenhang Dr. Martin Arnold gefunden, den emeritierten Dekan des Kirchenkreises Eschwege, der die Geschichte der Juden von Netra und deren Leben zu Zeiten der Ausgrenzung, Verfolgung bis hin zu ihrer Verjagung aus ihrem Heimatdorf, ihrer Deportation und Ermordung nachverfolgt und wahrheitsgemäß aufgeschrieben hat.“ In der Tat, Arnold hat 2016 eine 92-seitige Dokumentation veröffentlicht, mit dem Titel: „Der Kirchenkreis Eschwege und der Nationalsozialismus: Einverständnis und Konfliktlinien zwischen Kirche, NSDAP und Staat“. Er weiß, worüber er schreibt. [4] Der ehemalige Dekan hat sich auch mit den Krankenmorden („Euthanasie“) der Nazis in der Region auseinandergesetzt. Das Dokument ist als PDF erhältlich [5]. Martin Arnold ist unstrittig ein Experte auf dem Gebiet der Geschichte des Hitler-Faschismus in dieser Region. Egal, das Festkomitee in Netra will keinen „Unfrieden“.
Christoph Heubner versucht abschließend in dem Offenen Brief, dem Festausschuss Brücken zu bauen: „Die Zeit der Festschriften in Deutschland, in denen die Jahre 1933-1945 verschwiegen und ausgespart werden, ist vorbei. Vor allem aber dürfen Sie Ihre jüdischen Mitbürger nicht erneut hinauswerfen – aus Ihrer Festschrift und aus Ihrem Gedächtnis. Gerade in dieser Zeit und in diesen Tagen. Also, fassen Sie Mut und springen Sie über Ihren Schatten! Nur dann wird es ein schönes Fest! Noch ist es Zeit!“ Leider nicht: Die Chronik ist gedruckt!
Quellen:
[4] leider ist die Veröffentlichung vergriffen, hier sind die bibliografischen Angaben: https://www.amazon.de/Kirchenkreis-Eschwege-Nationalsozialismus-Einverst%C3%A4ndnis-Konfliktlinien/dp/3894778903
[5] als PDF abrufbar: http://www.vhghessen.de/eschwege/EG_28_2017_komplett.pdf