Artur Roth

Artur Roth (1927 bis 2017)

Traueranzeige_Artur RothDie Beisetzung fand am 11. April 2017 auf dem Praunheimer Friedhof in Frankfurt am Main statt. Am Jahrestag der Selbstbefreiung der Häftlinge des KZ Buchenwald. Folglich hat Bruni Freyeisen ihre Abschiedsrede für Artur Roth so begonnen:
 
„Heute vor 72 Jahren, am 11. April 1945 konnte das Internationale Lager-Komitee Buchenwald den über 21.000 Überlebenden zurufen: „Wir sind frei“.
Die Waffen-SS und Wachmannschaften waren vertrieben bzw. auf der Flucht. Einer der maßgeblich an der Vorbereitung Beteiligten zur Befreiung war Otto Roth, der Vater von Artur.
Artur Roth, den wir heute hier gemeinsam auf seinem letzten Weg begleiten.“
 
Artur wurde am 12. Mai 1927 in Frankfurt geboren. Er wuchs in einer kommunistischen Arbeiterfamilie im Stadtteil Gallus auf. Als den Faschisten die Macht übertragen wurde, wussten seine Eltern, Gretel und Otto, dass sie bei all ihrem weiteren Handeln für Frieden und gegen Faschismus auch in der Verantwortung ihres Sohnes Artur stehen. Sie erzogen ihren Sohn zu einem selbstbewussten, nachdenkenden und vertrauensvoll handelnden Menschen.
 
Arturs junges Leben war geprägt von den Strapazen, die der Familie durch die Nazis auferlegt wurden. Seine Eltern wurden immer wieder verhaftet und saßen in unterschiedlichen Gefängnissen und Konzentrationslagern ein.
 
VVN-Gedenkstein_Friedhof_Praunheim (2)
1939 wurden wieder beide Eltern in Konzentrationslager eingeliefert. In dieser Zeit haben die Großeltern in Praunheim Artur fürsorglich aufgenommen. Sie waren immer in Sorge, ob der Bub seine Eltern jemals wieder sieht. Und Artur hoffte auch, dass bald die geliebten gemeinsamen Radtouren in den Schwarzwald wieder aufgenommen werden können. Weder die Ängste der Großeltern – sie ließen aus vermeintlichen Sicherheitsgründen ohne das Wissen seiner Eltern Artur taufen – noch das Misstrauen der Nachbarn waren Anlass für Artur sich als Heranwachsender von seinen Eltern zu distanzieren. Er war nie in der Hitler-Jugend und hat immer mit einem freundlichen „Guten Tag“ gegrüßt. Früh hat Artur lernen müssen, seine Gefühle im Zaum zu halten – was ihn sein ganzes Leben nicht mehr losließ.
 
1944 – Artur war 17 Jahre alt – wurde er noch zum Wehrdienst einberufen. Die Familie fragte sich: „Wird der Bub jetzt noch an der Front verheizt?“ Sie konnten aufatmen, er wurde „nur“ zur Flakabwehr für Industrie- und Militäranlagen in die Rödelheimer Kaserne einbestellt. Artur erzählte gerne darüber: „Ich hatte den sichersten Platz bei Bombenangriffen, denn Industrie- und Militäranlagen wurden ja kaum bis gar nicht bombardiert. Große Angst aber hatte ich immer, ob meine Lieben zu Hause alles überleben?“
 
Im April 1945 geriet er während eines Flakeinsatzes in Gefangenschaft. Die Entscheidung, französische oder amerikanische Gefangenschaft, war schnell getroffen. Artur sah eine Chance in der Nähe von zu Hause bleiben zu können und gab sein Geburtsdatum mit 05.12. statt 12.05. an. Denn alle die im ersten Halbjahr geboren waren kamen nach Frankreich, die anderen nach Bad Kreuznach in ein amerikanisches Kriegsgefangenenlager.
 
8. Mai 1945 – der Krieg war zu Ende. Artur ist in Gefangenschaft, sein Vater befreit in Buchenwald. Im September 1945 kommen Vater und Sohn endlich nach Hause. Geprägt durch unterschiedliche Erfahrungen, doch einig zum gemeinsamen Handeln: „Jetzt packen wir mit an und helfen ein Deutschland aus den Trümmern der Nazis aufzubauen, in dem weder Krieg noch Faschismus Platz haben und kein Mensch mehr Angst haben braucht“.
 
Gleich nach Kriegsende haben sich Jugendliche aus Praunheim und Westhausen zusammen gefunden und überlegt was sie jetzt machen könnten. In erster Linie waren sie froh überlebt zu haben und wollten einfach nur leben. Mit Hilfe von Artur und anderen wurde die Antifa-Jugend Praunheim-Westhausen gegründet. Singen, Laienspiel, Volkstanz, Fahrradtouren, Wanderungen waren die ersten Aufgaben. Mit Überlebenden, überwiegend aus den Reihen der KPD und SPD, wurden Diskussionsabende organisiert und Pläne für die Zukunft geschmiedet.
 
1947 wurde die FDJ gegründet und viele gingen zur FDJ-Praunheim-Westhausen, deren erster Vorsitzender Artur war. Andere gingen zu den Falken, den Naturfreunden, in Sportvereine und kirchliche Gruppierungen. Doch Zusammenhalt und Freundschaft hatte bei allen oberste Priorität. Viele Freundschaften aus dieser Zeit funktionieren auch heute noch – und das inzwischen in zweiter ja dritter Generation.
 
Artur hatte inzwischen eine Ausbildung bei den Farbwerken Höchst zum Chemielaboranten begonnen. Er fuhr täglich mit dem Rad von Praunheim nach Höchst und abends dann mit Zwischenstopp in Westhausen wieder zurück. In dieser Zeit lernte Artur Marianne kennen, denn deren elterliche Wohnung war Anlaufstelle für viele Aktivitäten. Artur bekam immer ein gutes warmes Abendessen – was in dieser Zeit von großer Bedeutung war – und dann ging’s zum Jugendtreff in die „Westhäusener Waschküch“. Dem jüngeren Bruder von Marianne, Ossi, war schnell klar „der kommt nicht nur wegen des Essens, dem gefällt auch meine Schwester“. Er sollte recht behalten.
 
Die Arbeit in FDJ und KPD wurde immer intensiver. Artur hatte zwischenzeitlich ein Kleinmotorrad erworben, so kam er doch immer schnell von einem Ort zum anderen. Dafür wurde er von allen beneidet und bewundert. Ossi stibitzte sich dieses Gefährt ab und an mit den entschuldigenden Worten: „Papa, ich muss doch schnell Medikamente für Marianne aus der Apotheke holen, Artur ist doch in Sitzung und merkt nichts davon“.
 
Am 10. Februar 1951 heirateten Marianne und Artur – die erste Bewährungsprobe musste bestanden werden. Artur wurde nicht nur Mariannes Ehemann, sondern auch ihr Vormund – sie war noch keine 21. Marianne war entsetzt und zornig, Artur lachte nur.
 
Wohnungen gab es zu diesem Zeitpunkt sozusagen keine, also rückte die Familie von Marianne enger zusammen und das junge Paar bekam sein eigenes 4 qm großes Zimmer. Als Mischa 1954 auf die Welt kam wurde es langsam eng. Dank einer befreundeten Familie konnte die junge Familie in ein größeres Zimmer in Westhausen zur Untermiete einziehen.
 
Was keiner sich vorstellen konnte und keiner erwartete: Die alten Nazis kamen wieder an Schaltstellen des Staates, der Verwaltung, der Justiz, ja in alle Lebensbereiche. Der „Kalte Krieg“ mit Wiederbewaffnung und scharfem Antikommunismus bahnte sich seinen Weg und forderte seine Opfer. Auch Artur wurde wegen seiner Aktivitäten in der Deutsch-Sowjetischen-Freundschaftsgesellschaft von der Polizei verhaftet, angeklagt und zu mehreren Monaten Gefängnis verurteilt, die er in Darmstadt absaß. Kurios dabei ist, das geschah alles während Adenauer in Moskau weilte und über die Freilassung deutscher Kriegsgefangenen verhandelte. Marianne war mit ihrem kleinen Sohn Mischa ohne jegliche finanzielle Unterstützung – denn Lohn gab es während der Haftzeit nicht und Unterstützung stand ihr nicht zu. Begründung: Ihr Mann ist Staatsfeind. Sie war ganz auf die Hilfe ihrer Familie und die von Freunden und Genossen angewiesen. Artur wusste: die lassen „mein Mädchen nicht alleine“. Auch wusste er, dass auf Mariannes Bruder Ossi Verlass ist.
 
Schnell war klar, den Faschismus mit seinen Wurzeln zu vernichten, war nicht gelungen. Und schnell waren wieder neue bzw. alte Feindbilder aufgebaut: Schuld an allem Elend hat die Sowjetunion, haben die Kommunisten und deren Anhänger.
 
Viele demokratische Organisationen wurden verboten und ihre Mitglieder schikaniert. So wurde die VVN in einigen Bundesländern vorübergehend verboten, bzw. „nur“ die Gemeinnützigkeit aberkannt. 1952 wurde die FDJ verboten. Gleichzeitig wurde ein Antrag auf Verbot der KPD gestellt, dem dann 1956 stattgegeben wurde. Das Verbot ist bis heute nicht aufgehoben. Es waren noch keine 10 Jahre seit Kriegsende vergangen, als alter Wind durch neue Schläuche wieder Einzug fand. Diese Entwicklung war für Artur erst recht Grund sich in der Gewerkschaft und der Arbeiter-Wohlfahrt zu organisieren und in Verantwortung auch Funktionen zu übernehmen. Hoffnung und Kraft gaben ihm dabei auch die wachsenden Arbeits- und Sozialkämpfe.
 
Ende der 50er Jahre konnte die junge Familie dann eine eigene abgeschlossene Zwei-Zimmer-Wohnung in der Römerstadt in der Mithrasstraße beziehen. Hier kam dann auch André 1959 zur Welt. In den 60er Jahren, Artur arbeitete inzwischen in der Fa. Klimsch, machte er eine Weiterbildung zum Chemiefacharbeiter und späteren Chemie-Ingenieur. Das erforderte der Familie viel ab und oft musste Marianne ihre Buben ermahnen: „Pst, Vati studiert“.
 
Die politische Arbeit in der Partei – inzwischen illegal, die DKP konstituierte sich erst 1968 – in der Gewerkschaft und vor allem in der VVN ging ungebrochen weiter. Als die Ostermarschbewegung entstand war die ganze Familie vom ersten Tag an dabei. In der Interessensgemeinschaft Römerstadt half Artur den Mietern nicht nur bei Mietproblemen, er organisierte Gartenfeste und Lampionumzüge für die Kinder.
 
Artur hatte sich schon sehr früh mit der Aufarbeitung der Verbrechen in Buchenwald auseinandergesetzt. Gemeinsam mit Überlebenden aus dem Widerstand wurde diese Idee auch in den DGB getragen. So konnte eine Grundlage für „antifaschistische Stadtgänge“ geschaffen werden, die bis heute gut genutzt wird.
 
Trotz aller Aktivitäten, die zum Leben der ganzen Familie gehörten, gab es natürlich auch ein privates Leben. Familienfeiern, Theaterbesuche, Kinderfeste, Besuche bei Freunden und vieles mehr wurden ebenso ernst genommen wie all die vielen Fahrradtouren und Wanderungen. Nicht nur die Kinder wurden größer, auch die Ansprüche an Freizeitgestaltung wuchsen. Camping bis hin zum Wohnwagen kam zum Einsatz. Im Familienkreis waren sie die „Campingidioten“, denn sie reisten nicht nur in den Schwarzwald oder nach Jugoslawien, nein, 1973 fuhr man bis ans Nordkap. Und bereits im Rentenalter machte Artur noch sein Patent als Binnenschiffer. So lernten sie Flüsse in Frankreich, England und Irland kennen. Außerdem gab es auch einen zweiten Wohnsitz: Im Vogelsberg am Niedermooser See parkte der Campingwagen. Das war eine Oase der Entspannung – wenn nicht zu viele Freunde auftauchten. Doch das war nicht immer zu vermeiden, und einige entdeckten dabei selbst Freude am Camping. So wuchs dort klammheimlich und unorganisiert eine kleine „rote“ Kolonie.
 
Ein schwerer Schicksalsschlag traf Artur und die ganze Familie, als Marianne 1989 an Krebs erkrankte. Relativ schnell war klar: es gibt kein Entrinnen. Sie sind in dieser Zeit noch enger zusammen gerückt. Mischa und André mit ihren Familien waren immer für sie da.
 
Am 27. Juni 1990 feierte, ja feierte Marianne ihren 60. Geburtstag. Und gerne kamen alle in die schöne und große Wohnung Im Burgfeld. Marianne begrüßte alle ganz herzlich – so als sei nix. Sie genoss es, in ihrer Wohnung die Zwischentür der beiden großen Zimmer zu öffnen und eine große Tafel durch beide Zimmer aufzubauen. Sie bewirtete uns und freute sich über diesen gelungenen Tag. Artur schaute immer etwas ängstlich, doch der Blick von Marianne sagte ihm: „das ist mein Tag“. Sie ahnte wohl, dass sie den Tag ihrer „Goldenen Hochzeit“ in wenigen Monaten nicht mehr erleben wird. Am 11. November 1990 starb Marianne. Bei meinem letzten Besuch wenige Tage zuvor, sagte Marianne im Beisein von Artur: „Artur kann nicht lange alleine bleiben, soll er auch nicht. Ich habe ihm gesagt, dass das eine Leben nichts mit dem anderen zu tun hat.“ Nach einer kurzen Pause ging ein leichtes Lächeln über ihr Gesicht, sie schaute uns an und sagte: „Schön wäre, wenn ihr mich nicht vergesst.“
Das haben wir nicht.
 
1991, im Rahmen der Verleihung der Johanna-Kirchner-Medaille der Stadt Frankfurt an Menschen, die aktiv gegen Krieg und Faschismus wirkten, wurde auch Artur diese Medaille verliehen. Er nahm diese Auszeichnung gerne an, auch in Erinnerung an seine Eltern Gretel und Otto und in Erinnerung an Marianne.
 

Als Artur 1993 Marga Sehling näher kennen lernte dachte er nicht, dass es eine so langjährige enge und innige Beziehung würde. Sie kannten sich ja bereits aus der AWO. Beide waren verwitwet und beiden fiel das Alleinsein schwer. Marga hatte so manchen Angriff wegen Arturs und Mariannes Zugehörigkeit zur DKP miterlebt, doch das tat der Liebe keinen Abbruch. Marga begleitete Artur zu vielen Veranstaltungen und Vorträgen.

Buchtitel

Vor allem aber half sie Artur bei der Erstellung des Buches „Unter den Augen der SS“, das er anhand der Unterlagen seines Vaters zusammenstellte. Viele Monate recherchierten sie und führten Gespräche mit Menschen die Otto noch aus dem KZ kannten. Vorgestellt wurde das Buch am 11. April 1995 im Bürgerhaus Nordweststadt – ein immer wiederkehrendes Datum in der Lebensgeschichte der Familie Roth. Lesungen und Diskussionen vor Schulklassen und in anderen Einrichtungen folgten. Auch nahmen Artur und Marga über viele Jahre an dem alljährlich stattfindenden Wochenendseminar des DGB Frankfurt in der Gedenkstätte Buchenwald teil.
 
Und auch sie schafften es, Zeit für private Interessen zu finden. Gerne waren sie in ihrem Wochenenddomizil am Niedermooser See. Gerne überwinterten sie viele Jahre auf Mallorca.
Dort konnten sie entspannen und Kraft in der warmen Sonne tanken. Auch war es für Artur gut zu wissen, dass die Kinder und Enkel von Marga ihn nicht nur akzeptierten, sondern gerne als Mitglied in die Familie aufnahmen.
 
Ende 2013 zogen Artur und Marga nach Kronberg um. Sie hatten sich für ihren Alterssitz eine Einrichtung gesucht, die dem Alter gemäß eingerichtet ist. Dass das nur für sehr kurze Zeit sein sollte, damit hatte niemand gerechnet. Artur musste erneut einen schweren Einschnitt in sein Leben hinnehmen – Marga starb nur kurze Zeit nach dem Umzug von Frankfurt nach Kronberg. Artur fiel erneut in ein großes Loch. Zweimal einen lieben Menschen zu verlieren, geht fast an die Grenzen der noch zur Verfügung stehenden Kräfte. Nach der Beerdigung von Marga sagte Artur der Familie von Marga u.a. mit folgenden Worten danke: „Ich habe einen Menschen verloren, mit dem ich sehr glücklich war. Wenn man mit über 60 Jahren einen Partner verloren hat, bricht eine Welt zusammen. Ein großes Glück ist es, dann noch einmal einen Neuanfang zu finden. Wir waren nicht nur Lebensgefährten, wie es juristisch heißt. Wir waren Verliebte und haben unseren zweiten Lebensabschnitt sehr genossen.“
 
Artur wirkte, soweit seine Kräfte es zuließen, im Studienkreis Deutscher Widerstand mit. Auch das wieder ein Ort mit Hoffnung, dass kommende Generation sich informieren und gegen das Vergessen sich einsetzen. Dass ihn das sehr beschäftigte spürte ich bei unserem letzten Zusammentreffen zur 50-Jahrfeier des Studienkreises am 25. Februar diesen Jahres, als er zu mir sagte: „Bruni, ich habe Angst, Angst dass alles umsonst war und die Welt wieder in Schutt und Asche gelegt wird. Ich kann nicht mehr viel machen, aber ihr. Ihr dürft nicht aufgeben.“
Mit diesem Appell verabschieden wir uns von Artur und begleiten ihn auf dem Weg zu seiner letzten Ruhestätte, die nicht besser passen könnte – hier ruhen die Großeltern und Eltern von Artur, Marianne seine Ehefrau und Marga seine Lebensgefährtin.

Artur, wir werden uns deiner gerne erinnern, und jeder mit seinen Möglichkeiten für eine bessere Welt eintreten.
 

Quelle: Trauerrede vom 11. April 2017, Bruni Freyeisen